Whiplash

© TiJo (www.film-berater.de), 2020

Einleitung

Obwohl sich Kritiker bei diesem Prozess manchmal uneins sind, lässt sich beinahe jeder Film irgendeinem Genre zuordnen. Unter einem Filmgenre wird allgemein eine Gruppe von Filmen zusammengefasst, welche Gemeinsamkeiten aufweisen. Filme desselben Genres folgen leicht wiedererkennbaren Grundmustern. Dabei sind die sogenannten Kerngenres (Action, Dark Drama, Fantasy, Horror, Mystery, Science-Fiction, Thriller), die alle eine verwandte dramatische Struktur aufweisen, besonders beliebt. Bei Damien Chazelles Whiplash handelt es sich um ein Drama und um einen Musikfilm.

In seinen ersten Jahren war der Film stumm. Schon bald wurden die bewegten Bilder musikalisch begleitet – zunächst durch ein Grammophon, dann durch musizierende Kinoerzähler oder ganze Orchester. Die Filmmusik war geboren. Heute hat diese einen festen Platz in unserer Wahrnehmung und Bewertung von Filmen. Man stelle sich einmal Nicolas Winding Refns Drive ohne den markanten Ambient-Soundtrack vor. Dieser wunderbare Film ist ein perfektes Beispiel für die Atmosphäre, welche durch Filmmusik transportiert wird und ohne sie verloren ginge. Aber handelt es sich bei Drive um einen Musikfilm? Sicher nicht.

Ein Musikfilm ist so zahlreich von musikalischen Darbietungen durchzogen, dass diese zu einem bewusst erlebbaren, integralen, Bestandteil der Handlung werden. Whiplash ist ein Musikfilm, Drive lediglich ein Film mit einnehmendem Soundtrack. Zwei Subgenres des Musikfilms sind der Musical-Film und das Filmmusical. Während der Musical-Film die Adaption eines Bühnen-Musicals darstellt (z.B. Rob Marshalls Chicago), wird das Filmmusical erst für das Kino geschaffen. Mit La La Land, 14-fach Oscar-nominiert und letztlich sechsfach ausgezeichnet, hat Damien Chazelle 2016, zwei Jahre nach Whiplash, ein solches Filmmusical geschaffen. Whiplash ist kein Musical, sondern ein äußerst sehenswerter Musikfilm. Ein Musikfilmdrama. Doch Whiplash ist noch mehr: Charakteristisch für das Kerngenre des Thrillers ist ein Spannungsaufbau und -bogen, der während des gesamten Handlungsverlaufs präsent ist, sowie ein Held, der sich meist gegen einen oder mehrere Gegenspieler behaupten muss. Dieser Definition folgend ist Whiplash nicht nur Drama und Musikfilm, sondern auch Thriller. Ein Musikthriller. Damit hat Chazelle einen Genrehybrid geschaffen, den ich zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Egal für welche Genrezuschreibung man sich letztlich entscheidet – Whiplash ist ein Wahnsinnsfilm!

Kritik

Whiplash wurde mit drei Oscars ausgezeichnet

Whiplash ist vieles, nur kein Geheimtipp. Der US-amerikanische Film spielte in den Kinos fast 49 Millionen Dollar ein (bei einem Produktionsbudget von 3,3 Millionen Dollar). Trotz der Bekanntheit die Whiplash genießt und der zahlreichen Auszeichnungen (in Sundance und Cannes gefeiert, für fünf Oscars nominiert und letztlich dreifach Oscar-prämiert), steht die Produktion ein wenig im Schatten des farbsatten La La Lands. Hierbei handelt es sich nicht nur um eines der erfolgreichsten Filmmusicals aller Zeiten, sondern auch um den direkten Nachfolgefilm Damien Chazelles.

Ein Film wie ein Peitschenschlag

Der Titel Whiplash funktioniert auf mehreren Ebenen. Whiplash lässt sich aus dem Englischen mit Peitschenschlag übersetzen. Der Protagonist des Films wirkt wie mit der Peitsche angetrieben. Der Mediziner denkt bei dem englischen Begriff whiplash an die peitschenschlagartige Schleuderbewegung der Halswirbelsäule während eines Auffahrunfalls. Neben Kopf- und Nackenschmerzen gehören Schwindel und Benommenheit zu den häufigen Symptomen des resultierenden Schleudertraumas (whiplash injury). Der Filmtitel lässt die Interpretation zu, dass sich die Zuschauer nach diesem hochrasanten Film benommen fühlen könnten. Der Filmtitel bezieht sich aber vor allem auf ein gleichnamiges rhythmisch-vertracktes Jazz-Stück von Hank Levy, welches dem Film als Leitmotiv dient.

Von Abhängigkeit und Macht

Der 19-jährige Andrew Neiman (Miles Teller) ist ein äußerst ehrgeiziger Schlagzeuger. Andrew verachtet die Mittelmäßigkeit. Er will nicht weniger als der beste Jazz-Drummer der Welt werden. Sein großes Talent bringt ihn nach New York an eines der renommiertesten Konservatorien des Landes. Um den musikalischen Durchbruch zu schaffen, ist er wild entschlossen, der Drummer der berühmten Studioband der Musikschule zu werden. Die Band wird vom strengen Musiklehrer Terence Fletcher (J. K. Simmons) geleitet. Fletcher ist ungemein charismatisch, aber furchteinflößend. Ein Drill Instructor und Leistungsfanatiker, der seine Musiker beschimpft, malträtiert und gegeneinander ausspielt. Er ist ein rücksichtsloser Sadist, der von der Idee besessen ist, dass man Nachwuchsmusiker demütigen muss, um ihnen Höchstleistungen zu entlocken. Fletcher erkennt nicht nur Andrews Begabung, sondern auch dessen krankhaften Ehrgeiz und die Bereitschaft, sich die Finger blutig zu trommeln. Er fördert Andrew, führt ihn dabei aber bis an seine Grenzen und weit darüber hinaus.

Wie Rocky in der Kaserne

Damien Chazelle hat mit Whiplash einen gewaltigen, energiegeladenen Film erschaffen. Das Finale gleicht einer orgiastischen Entladung, die sogar dem coolsten Zuschauer den Atem raubt. Dabei basiert Whiplash in Teilen auf persönliche Erfahrungen des jungen Regisseurs und Drehbuchautors, der selbst einmal Jazz-Drummer werden wollte. Er sei in der Studienzeit in einer kompetitiven Jazzband gewesen, so Chazelle, habe geprobt, bis auch seine Hände bluteten. Die Inszenierung Chazelles lässt ein so feines Gespür für Timing und Präzision erkennen, dass er die eigene musikalische Prägung kaum verbergen kann. Die Disziplin des Regisseurs könnte ebenfalls ein Relikt aus diesen Tagen am Schlagzeug sein. So benötigte Chazelle für Whiplash nur 19 Drehtage. Pro Tag drehte er allerdings 14 Stunden! Chazelle zeichnet den selbstzerstörerischen Kampf seines Protagonisten dynamisch und mitreißend nach – vielleicht wäre der Film ohne diese rauschhaft-verdichtete Arbeitsweise, mit mehr Zeit und zusätzlichen Drehtagen, ein anderer geworden. Andrew erweckt den Eindruck, als ginge es um weit mehr als Musik oder die erhoffte Berühmtheit. Das Trommeln rückt in Chazelles Inszenierung in die Nähe des Hochleistungssports. Andrews Proben erinnern an den trainierenden Rocky Balboa. Der Drill durch den Bandleader Fletcher erinnert an den Kasernenton des Gunnery Sergeant Hartman in Kubricks Full Metal Jacket.

Ein Kammerspiel als körperliche Erfahrung

Passend zur kammerspielartigen Inszenierung findet die Handlung fast ausschließlich im fensterlosen Proberaum oder auf der Bühne des Konservatoriums statt, welches der Juilliard School in New York nachempfunden wurde. Trotz wahrlich unspektakulärer Kulisse wurde Andrews Streben nach Exzellenz von Kameramann Sharone Meir virtuos eingefangen. Der phänomenale Schnitt von Tom Cross, der hierfür zurecht mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, verstärkt die Sogwirkung der kraftvollen Filmaufnahmen. Die Schnitte erfolgen im Takt der Musik. Entsprechend begleiten schnelle Schnitte die besonders elektrisierenden Jazzpassagen. Rasante Drumsolos werden neben intime Dialogszenen montiert, nicht nur des effektvollen Kontrastes wegen, sondern um die Zuschauer überhaupt jemals verschnaufen zu lassen. Der stimulierende Soundtrack von Justin Hurwitz trägt weiter dazu bei, dass Whiplash zu einer körperlichen Erfahrung für die Zuschauer wird. Selten fiel es mir in einem Film so schwer, still sitzen zu bleiben.

Ambivalenz als Stärke der Erzählung

Die Figuren und deren Handlungen sind aus dramatischen Gründen bewusst überzeichnet. In den echten Jazz-Kaderschmieden dieser Welt werden sicher nicht ständig Blut, Schweiß und Tränen vergossen. Trotzdem ist Chazelle zu intelligent, um seine Figuren in simple Kategorien wie Gut und Böse einzuteilen. Andrew ist in seiner Arroganz und Besessenheit zunächst kaum Sympathieträger. Und er ist nicht nur Opfer, was klar wird, wenn man ihm dabei zusieht, wie bereitwillig er sich auf den hart geführten Konkurrenzkampf innerhalb der Band einlässt. In seinem übertriebenen Ehrgeiz ist Andrew zudem sehr verwundbar. Fletcher erkennt diese charakterlichen Merkmale seines Schülers und nutzt sie für seine Zwecke aus. In kürzester Zeit hat der manipulative Musiklehrmeister jegliches Selbstvertrauen Andrews zerstört. In manchen Szenen baut er Andrew nur auf, um ihn danach aus größerer Fallhöhe abzuservieren. Jede Freundlichkeit, jedes Lächeln Fletchers könnte eine Falle sein. Er verkörpert die schwarze, inhumane Seite der Pädagogik. Fletcher, der muskelbepackte Glatzkopf mit dem stechenden Blick, steht für unkontrollierte Gewaltausbrüche und künstlerische Besessenheit ohne Augenmaß. Chazelle schrieb ihm – bei allem Zynismus, bei aller Boshaftigkeit – aber auch manch sympathische Eigenschaft zu. In einer Szene beobachtet Andrew etwa, wie liebevoll Fletcher mit der Tochter eines alten Freundes umgeht. Bis zu einem gewissen Punkt kann man als Zuschauer nachvollziehen, wieso Andrew diesem Mentor so unbedingt gefallen will, so lange mitzieht und so vieles erduldet.

Die Darsteller sind eine Wucht

Ein solch intensives Kammerspiel verlangt neben dem Publikum auch seinen Darstellern einiges ab. Chazelle hat in der Rollenbesetzung ein glückliches Händchen bewiesen. Miles Teller verkörpert Andrew. Er ist glaubwürdig, scheint wirklich vom Ehrgeiz getrieben zu sein. Entschieden zu dieser Authentizität beigetragen haben dürfte der Fakt, dass er einen Großteil der Schlagzeugparts selbst einspielte. Schon mit 15 Jahren saß der junge Schauspieler an den Drums. Für die Stücke in Whiplash musste er trotzdem intensiv trainieren. J. K. Simmons war vor Whiplash häufig in Nebenrollen (etwa in Juno) zu sehen. Ähnlich wie Peter Coyote in Bitter Moon nutzt er nach Jahren im Filmgeschäft die ungewohnt große Bühne, die ihm mit dieser Hauptrolle zur Verfügung gestellt wurde, um ein fettes Ausrufezeichen zu setzen. Seht her, hier bin ich. Die Kritikergemeinde war begeistert. Nicht wenige preisten die Darstellung des Terence Fletcher als die beste Leistung seiner Karriere. Seine Ausstrahlung ist bedrohlich, seine Wirkung hypnotisch. Fletcher ist unwiderstehlich, seine Wutausbrüche gleichermaßen widerwärtig und faszinierend. Simmons schafft es, Fletcher mit einer so unangetasteten Autorität auszustatten, dass zu keinem Zeitpunkt Zweifel an seiner künstlerischen Brillanz aufkommen. Dabei profitiert auch der Schauspieler Simmons von einer musikalischen Vergangenheit (er studierte Bühnengesang und Filmkomposition). Seine blitzgescheiten aber unfassbar gemeinen Zwischenrufe lassen in mancher Szene den Zuschauer zusammenzucken. Sein dominantes Abbrechen der Musik durch eine einzige, die Luft schneidende, Handbewegung ist schon jetzt eine Filmgeste für die Ewigkeit.

Whiplash als Herzensangelegenheit

Damien Chazelle ist mit Whiplash ein großer Wurf gelungen – ein faszinierendes Werk um die zentrale Frage, ob sich Genie erzwingen lässt. Ironischerweise wird Chazelle selbst seit diesem Film als Wunderkind Hollywoods gehandelt. Whiplash war seine Idee, sein „Baby“. Er wollte den Film unbedingt. In der erzählten Geschichte ist Fletcher davon überzeugt, dass echte Talente niemals das Ziel vor Augen verlieren. Auf Chazelle mag das zutreffen. Er suchte ab 2012 Geldgeber für sein Filmprojekt. Über dem Umweg eines 18-minütigen Kurzfilms mit selbem Titel, der den Kurzfilm-Preis des Sundance Film Festivals gewinnen konnte und die Finanzierung für den Langfilm sicherte, entstand 2014 das Musikfilmdrama. Dieser unbedingte Wille, die Leidenschaft für seine Vision von einem Film, ist der fertigen Produktion in jeder Einstellung anzumerken. Nach temporeichen 106 Minuten mag manch ein Zuschauer ein Schleudertrauma erlitten haben. Sobald sich die Benommenheit legt, bleiben jene Fragen zurück, deren Beantwortung Chazelle dem Publikum gerne überlässt – etwa wo die Grenze zwischen und Kunst und durch Gewalt erzwungener Perfektion verläuft. Whiplash ist große Kunst und dabei nah dran an der Perfektion.

Fazit: Onetwo, onetwothreefour… Schnallen Sie sich an und lernen Sie den furchteinflößendsten Musiklehrer der Filmgeschichte kennen. Whiplash ist rasant, elektrisierend und verstörend zugleich. Ein wunderbarer Film!

Originaltitel: Whiplash
Produktionsland: USA
Erscheinungsjahr:
2014
Regie: Damien Chazelle
Drehbuch: Damien Chazelle
Darsteller: Miles Teller, J. K. Simmons
Kamera: Sharone Meir
Musik: Justin Hurwitz
FSK: 12

Für wen ist dies der ideale Film?

  • Wenn Sie Aronofskys Black Swan oder Kubricks Full Metal Jacket mögen, könnte Ihnen Whiplash gefallen.
  • Wenn Sie Schlagzeug spielen oder Jazzmusik lieben, geht kaum ein Weg an Whiplash vorbei.

Welches Setting passt zu diesem Film?

  • Whiplash ist elektrisierend wie wenig andere Filme. Sie können ihn spät in der Nacht beginnen – ohne Gefahr ihn zu verschlafen. Vielleicht sind Sie anschließend aber so aufgepeitscht, dass Sie überhaupt nicht mehr in den Schlaf finden.
  • Eine Abspielmöglichkeit mit guter Soundwiedergabe, etwa ein Heimkino-System, lohnt sich für Whiplash ganz besonders.

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