Die Nacht des Jägers

© TiJo (www.film-berater.de), 2020

Einleitung

Der belgisch-australische Sänger Gotye stürmte 2011 mit dem Ohrwurm Somebody That I Used To Know in vielen Ländern der Welt die Charts. Trotz sensationellem Erfolg entschied sich Gotye gegen ein Leben im Rampenlicht. Neben einem großen Song blieb das Gefühl, dass der Musiker sicher noch den einen oder anderen Hit hätte liefern können. Diese Ahnung, dass ein Künstler Gutes hätte folgen lassen können, die beschleicht einen auch bei Charles Laughton. Als Regisseur zeigte er sich für einen einzigen Film verantwortlich. Einen Film, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte und danach nicht mehr geben würde: Die Nacht des Jägers (basierend auf den gleichnamigen Roman von Davis Grubb). Dann sagte er, ähnlich wie Gotye, „das war´s“. Was die Geschichten dieser beiden Männer und ihrer Werke unterscheidet: Gotyes Song wurde direkt nach der Veröffentlichung frenetisch gefeiert, Laughtons Regieerstling aus dem Jahr 1955 hingegen von seinen Zeitgenossen weitestgehend missverstanden, ausgebuht und kritisiert. Schon bei einer nicht-öffentlichen Testvorführung kommentierte einer der United Artists-Bosse, dass Die Nacht des Jägers sonderbar sei. In der Folge wurde der Film fast ohne Werbung in die Kinos gebracht und floppte kommerziell.

Dabei genoss Laughton zum Zeitpunkt seines Regieeinstands als Schauspieler seit über zwei Jahrzehnten ein hohes Ansehen beim Publikum und den Kritikern. Als Charakterdarsteller brillierte der Freund Bertolt Brechts in Filmen wie Meuterei auf der Bounty oder Der Glöckner von Notre Dame. Für seine Darstellung von König Heinrich VIII. wurde er mit dem Oscar ausgezeichnet. Die Kränkung nach seiner einzigen Regiearbeit muss für den britisch-amerikanischen Künstler immens gewesen sein. Er ließ keinen weiteren Film folgen, sieben Jahre später war er tot. Tragisch daran ist die Tatsache, dass sein einziger Film Jahre später als Meisterwerk wahrgenommen wird. 1992 wurde Die Nacht des Jägers in die National Film Registry aufgenommen, dem US-amerikanischen Auswahlverzeichnis für kulturell, geschichtlich oder ästhetisch bedeutende Filme. Das französische Filmmagazin Cahiers du cinéma listete ihn 2008 – hinter Citizen Kane – auf dem zweiten Platz der besten Filme aller Zeiten. Ein Jahr später wurde Die Nacht des Jägers vom britischen The Spectator auf Platz 1 der 50 essenziellsten Filme aller Zeiten gewählt. Spike Lee, berühmter Filmemacher und Dozent an der New York University, veröffentlichte 2013 jene Liste, welche er am ersten Tag eines jeden Kurses seinen Studierenden austeilt. Auf der Liste finden sich Filme, von denen Lee glaubt, dass man sie gesehen haben sollte, wenn man selbst Filme machen möchte – ein Filmkanon für Cineasten. Die Nacht des Jägers findet sich auf ebendieser Liste. Wie kann es sein, dass dieser Film heute so anders bewertet wird als bei seiner Erstaufführung vor 65 Jahren? Eine beachtliche Anzahl zeitgenössischer Kritiker und Filmwissenschaftler ist sich einig, dass der Film mit seiner surreal-märchenhaften Art seiner Zeit voraus war. Die Zuschauer der 1950er Jahre waren auf diese einzigartige Mischung verschiedener Filmstile nicht vorbereitet oder mit der Bösartigkeit der Handlung überfordert.

Kritik

„Schläft er denn nie wie andere Menschen?“

Die USA Anfang der 1930er Jahre inmitten der Great Depression: Ben Harper (Peter Graves) hat eine Bank ausgeraubt und dabei zwei Männer erschossen. Auf der Flucht vor der Polizei gelingt es ihm, die 10.000 $ Beute bei seinen Kindern John (Billy Chapin) und Pearl (Sally Jane Bruce) zu verstecken. Außer ihnen weiß keiner, wo das Geld versteckt ist. Harper wird verhaftet und zum Tode verurteilt. Er teilt sich die Zelle mit Harry Powell (Robert Mitchum), der aufgrund eines Autodiebstahls im Gefängnis sitzt. In Wirklichkeit ist jener Zellengenosse ein psychopathischer Serienmörder, der sich als Wanderprediger ausgibt und im Auftrag des Herrn tötet. Powell erfährt von der Beute, kurz darauf wird Ben Harper hingerichtet. Nach seiner Haftentlassung macht Powell die Familie Ben Harpers ausfindig und lässt sich in deren Heimatort im ländlichen Ohio nieder. Er stellt sich Harpers labilen Witwe Willa (Shelley Winters) vor und gewinnt ihr Vertrauen. Powell schafft es sogar, sie dazu zu bringen, ihn zu heiraten. Harpers Sohn John muss mitansehen, wie sich der gierige Wanderprediger das Vertrauen der Familie und der Gemeindebewohner erschleicht. Er ist der einzige, der die wahre Natur des Killers erahnt und versteht, dass Powell nur an dem versteckten Geld interessiert ist. Powell lässt nichts unversucht, um den Kindern das Geheimnis des Verstecks zu entlocken. Für die kleine Pearl und John beginnt ein Alptraum.

Eine Geschichte von Liebe und Hass

Harry Powell ist ein skrupelloser Psychopath. Die Tätowierungen „Love“ und „Hate“ zieren seine Finger. Das Auftreten als Prediger verstärkt die gruselige Erscheinung. Er umgarnt die ahnungslosen und bigotten Dorfbewohner, versteckt seine wahren Absichten hinter plakativen Bibelversen. Charles Laughton soll – bei zunächst erfolgloser Suche nach einem geeigneten Hauptdarsteller – selbst mit dem Gedanken gespielt haben, den Part des Harry Powell zu übernehmen. Schließlich fiel die Wahl auf Robert Mitchum, was sich als Glücksgriff herausstellen sollte. Mitchum identifizierte sich so mit der Rolle des mordenden Wanderpredigers, dass er es viele Jahre ablehnte, über den Film zu sprechen – zu intensiv sei die für die Dreharbeiten notwendige Auseinandersetzung mit dem Wesen Harry Powells gewesen.

In Die Nacht des Jägers beobachten die Zuschauer die Geschehnisse wiederholt aus der Sicht der Kinder. Kinder, die in einigen Szenen auf sich allein gestellt sind. Laughton entwirft das Bild hilfloser Erwachsener und eines machtlosen Staates während der Weltwirtschaftskrise. Familienväter werden aus existenzieller Not zu Bankräubern oder Henkern, um die Familie zu versorgen. Der Serienmörder behauptet Geistlicher zu sein. Der zentrale Kontrast aus Gut und Böse durchzieht auch auf visueller Ebene den Film. Hierfür nutzte Kameramann Stanley Cortez eine starke Beleuchtung. So kreierte er Schwarzweißbilder mit besonders intensiven Gegensätzen von Licht und Schatten. Es entstehen wunderschöne Bilder, die unterschwellig eine Atmosphäre der Beklemmung und Bedrohung erschaffen.

Musikeinsatz in Die Nacht des Jägers

Der Film ist nicht nur fantastisch anzusehen, auch der Einsatz der Filmmusik Walter Schumanns ist bemerkenswert. Der US-amerikanische Komponist schrieb für die wichtigsten Protagonisten des Films Musikthemen, welche im Temperament ihrem Charakter entsprechen. Diese Melodien begleiten wiederholt die Auftritte der Figuren. Während Harry Powells Erkennungsmelodie bedrohlich wirkt, wurde der guten Seele des Films ein sanftes Wiegenlied als musikalisches Leitmotiv zugewiesen. Durch sich ergänzende Orchestrierungen und Rhythmen, werden die Musikthemen einiger Akteure der Geschichte miteinander verwoben. Ähnliche Melodien weisen wiederum auf ähnliche Charaktere oder vergleichbare Funktionen der Protagonisten hin. Neben dieser Erkennungsmelodie hat Harry Powells hypnotisch anmutender Gesang weiteren Anteil an seiner angsteinflößenden Ausstrahlung. Das für den Gesang verwendete Kirchenlied Leaning on the Everlasting Arms handelt ausgerechnet vom menschlichen Gottvertrauen („Ruhend, ruhend, ruhend in den Armen meines Herrn.“). Von einem psychopathischen Serienmörder interpretiert, verfehlt der Song nicht seine gruselige Wirkung. Der Einsatz von Kinderliedern sorgt für weitere schaurig-schöne Momente.

Ist Die Nacht des Jägers gut gealtert?

Hat Die Nacht des Jägers die vielen Jahre seit seiner Erstaufführung (1955) gut überstanden? Wie wirkt Laughtons Film im Jahr 2020? Gefällt der Schwarzweißfilm den Zuschauern späterer Generationen? Zunächst muss festgestellt werden, dass die Geschichte denkbar trivial ist. Das Erzähltempo könnte ein wenig angezogen werden, und das Ende der Geschichte irritiert durch Kitsch und unerwartete Rührseligkeit. Somit ist Die Nacht des Jägers nicht über jeden Zweifel erhaben. Doch der Film ist, selbst nach heutigen Maßstäben, einfallsreich inszeniert. Die Form überragt den Inhalt daher mühelos. Und der Film „funktioniert“ noch immer. Er schockiert, macht wütend und fasziniert zugleich. Die enthaltene Kritik der blinden (Pseudo-)Religiosität sowie der Leichtgläubigkeit der Gemeinde, hat nichts an ihrer Brisanz verloren. Und so steht – 65 Jahre nach der Erstaufführung – außer Frage, dass Die Nacht des Jägers eine Ausnahmeproduktion darstellt. Laughtons erste und einzige Regiearbeit war für die Weiterentwicklung der Filmkunst enorm wichtig.

Bilder, die überdauern

Die Straßenlaterne, die gruselige Schattenspiele an die Wand des Kinderzimmers wirft. Das gespenstische Unterwasserbild einer Frauenleiche, deren Haare wie Seegras durchs Wasser gleiten. Der bekannt gewordene Monolog in dem Powell die Gegensätze „Love“ und „Hate“ in Form seiner tätowierten Finger miteinander ringen lässt. Und nicht zuletzt die märchenhafte Flussfahrt auf dem nächtlichen Ohio River, während derer dem Zuschauer in Großaufnahme Tiere wie Schildkröte und Hase am Flussufer präsentiert werden. All das sind Bilder, die für die Ewigkeit eingefangen wurden. Es macht Freude, sich in dieser (gestochen scharfen) Traumwelt zu verlieren. Zahlreiche Motive und Einstellungen aus Die Nacht des Jägers fanden in Form von Zitaten und Reminiszenzen Eingang in spätere Filme, etwa in den Werken der Coen-Brüder, Spike Lees oder in der Rocky Horror Picture Show. Das Thema einer verschlafenen Kleinstadt, die urplötzlich mit dem Inbegriff des Bösen konfrontiert wird, wurde seither häufig variiert – etwa in Stephen Kings Es oder in den Arbeiten David Lynchs (z.B. in Blue Velvet).

Die Nacht des Jägers ist selbst reich an Bezügen auf frühere Meilensteine der Filmgeschichte. Die surrealistische Bildsprache, die durch unkonventionelle Kameraperspektiven und die tiefen Schwarz-Weiß-Kontraste erzeugt wird, erinnert an die expressionistische Filmtradition im Deutschland der 1920er-Jahre sowie andere Werke der Stummfilmzeit. Aufgrund seiner bedrohlichen Grundstimmung wird Die Nacht des Jägers häufig dem Film noir zugeordnet, wenngleich diese Klassifizierung unter Filmwissenschaftlern höchst umstritten ist. Die surrealistischen Einstellungen, oft von großer Schönheit und Poesie gefärbt, sind untypisch für einen Film noir. Auch die märchenhaften Handlungselemente – Parallelen zu Hänsel und Gretel sind schwer von der Hand zu weisen – passen nicht zu dieser Filmgattung. Letztlich fällt es schwer, Die Nacht des Jägers einem definitiven Genre zuzuordnen, obwohl er viele Aspekte des Film noir teilt. Laughtons Regiearbeit ist im besten Sinne eigenwillig. Die Nacht des Jägers ist eine experimentelle Vermischung verschiedener Filmströmungen, gewürzt mit zahlreichen Motiven der Gebrüder Grimm. Ein stilprägendes Gruselmärchen für Erwachsene.

Fazit: Ebenso faszinierendes wie einzigartiges expressionistisches Meisterwerk, welches verdient zum Kultfilm avancierte. Atmosphärisch dicht und bedrückend. In der Hauptrolle ein erschreckend psychopathisch agierender Robert Mitchum. Pflichtprogramm für Cineasten!

Originaltitel: The Night of the Hunter
Produktionsland: USA
Erscheinungsjahr:
1955
Regie: Charles Laughton
Drehbuch: James Agee, Charles Laughton
Darsteller: Robert Mitchum, Shelley Winters, Lillian Gish, Billy Chapin
Kamera: Stanley Cortez
Musik: Walter Schumann
FSK: 12

Für wen ist dies der ideale Film?

  • Wenn Sie Ein Köder für die Bestie (Kap der Angst, Cape Fear; 1962), ebenfalls mit einem Furcht einflößenden Robert Mitchum in der Hauptrolle, mögen, könnte Ihnen Die Nacht des Jägers gefallen.
  • Wenn Sie, was hierzulande eher unwahrscheinlich ist, das Fernsehfilm-Remake The Night of the Hunter aus dem Jahr 1991 gesehen haben, dann sollten Sie unbedingt auch Laughtons Original von 1955 kennen. Erstaunlicherweise lässt es den deutlich jüngeren Fernsehfilm sehr alt aussehen…
  • Sie sollten Die Nacht des Jägers anschauen, wenn Sie Schwarzweißfilme mögen und offen für alte Filmperlen sind.
  • Es tut mir leid, aber Sie müssen Die Nacht des Jägers anschauen, wenn Sie Cineast sind oder ein ebensolcher werden möchten.

Welches Setting passt zu diesem Film?

  • Die Nacht des Jägers ist der ideale Film für die Sichtung mit gleichgesinnten Filmliebhabern, etwa im Rahmen einer Filmgruppe.
  • Die Nacht des Jägers eignet sich als Unterrichtsgegenstand zur Filmanalyse in Schulen oder Universitäten.

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