Die Frau, die singt – Incendies

© TiJo (www.film-berater.de), 2020

Einleitung

Es gibt Regisseure, deren Werk begeistert mich so, dass ich für sie meine Sehgewohnheiten ändere. Denis Villeneuve ist einer von ihnen. Weil ich Villeneuve für einen begnadeten Künstler halte, habe ich mir – entgegen meiner jahrelang gefestigten Präferenzen – auch seine Science-Fiction-Filme (Arrival, Blade Runner 2049) angeschaut. Ich tue mich schwer mit dem Science-Fiction-Genre, aber die Aussicht auf weitere Minuten Villeneuve-Bildsprache, Villeneuve-Stilistik und letztlich Villeneuve-Feeling, lassen mich das vergessen. Meine Einstiegsdroge in die Filmwelt des Frankokanadiers war der wendungsreiche Film Die Frau, die singt – Incendies (häufig auch in folgender Schreibweise zu finden: Die Frau die singt – Incendies). Hierbei handelt es sich nicht um einen Science-Fiction-Film, sondern, trotz heiterem Namen, um eine erschütternde Tragödie. Die Frau, die singt – Incendies wurde 2010 auf dem internationalen Filmfestival in Toronto als bester kanadischer Spielfilm ausgezeichnet und 2011 für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Bei der breiten Masse fand der Film trotzdem kaum Beachtung. Dabei wird einem schon bei der hypnotisch-anmutenden Eröffnungsszene (zu den atmosphärischen Klängen von Radioheads You and whose army?), mit dem leersten Kinderblick der Filmgeschichte, klar, dass wir es bei Die Frau, die singt – Incendies mit nicht weniger als einem Meisterwerk zu tun haben.

Kritik

Spurensuche in einem namenslosen Land

Der letzte Wille ihrer aus dem Nahen Osten stammenden Mutter Nawal (Lubna Azabal) überrascht die erwachsenen Zwillinge Jeanne (Mélissa Désormeaux-Poulin) und Simon Marwan (Maxim Gaudette). Notar Jean Lebel (Remy Girard), ein enger Freund der in Montréal lebenden Familie, überreicht ihnen zwei versiegelte Briefe: Einer ist für den Vater der Geschwister bestimmt, der zweite für ihren gemeinsamen Bruder. Beide Abschiedsbriefe müssen laut Nawals Testament persönlich und verschlossen übergeben werden, bevor sie eine reguläre Beerdigung gestattet. Der Haken an der Sache: Den Vater hielten die Zwillinge für tot, von einem Bruder wussten sie nichts. Um dem Wunsch der Mutter nachzukommen, verlässt Jeanne die kanadische Heimat und bricht in den Nahen Osten auf. Sie bereist – zunächst allein, später begleitet von Simon – ein namenloses, vom Bürgerkrieg gezeichnetes Land, welches der Mutter Heimat war, bis sie es verließ, um dem Grauen zu entkommen. Die Zwillinge enthüllen in detektivischer Manier eine Wahrheit, die ganz und gar unglaublich scheint. Sie besuchen Orte aus der Vergangenheit der Mutter, befragen Zeitzeugen. Dabei müssen sie feststellen, wie wenig sie über die eigene Familiengeschichte wussten.

Das namenslose Heimatland Nawals im Nahen Osten erinnert an den Libanon zu Zeiten des Bürgerkriegs. Gedreht wurde in Jordanien. Fiktive Städtenamen machen deutlich, dass die von Denis Villeneuve meisterhaft erzählte Geschichte überall dort spielen könnte, wo Christen und Muslime in sinnloser Gewalt aufeinander losgehen. Der Film aus dem Jahr 2010, der auf dem Theaterstück Incendies (deutsch: Verbrennungen) von Wajdi Mouawad basiert, beruht in Teilen auf der Lebensgeschichte von Souha Fawaz Bechara. Souha wurde 1967 in Beirut geboren und trat nach der israelischen Invasion in den Libanon im Jahr 1982 vor dem Hintergrund des tobenden Bürgerkriegs in den Widerstand ein. Mehr soll über die Biografie Souhas nicht verraten werden (nach der Betrachtung von Die Frau, die singt – Incendies ist es aber unbedingt empfehlenswert, das Wissen über Souhas Lebensgeschichte zu vertiefen). In der kurzen Inhaltsangabe oben habe ich bewusst nur die Ausgangssituation des Films dargestellt. Villeneuves Tragödie trifft die Zuschauer mit größter emotionaler Wucht, wenn diese im Vorfeld kaum mit der Handlung vertraut sind. Ich möchte Sie nicht um diesen Filmgenuss bringen.

Kann man hier von Filmgenuss sprechen?

Sobald Sie Die Frau, die singt – Incendies geschaut haben – und das sollten Sie unbedingt tun, denn selten war mir eine Filmempfehlung wichtiger als diese – wundern Sie sich vielleicht über den „Filmgenuss“, den ich versprochen hatte. Sie haben recht, Villeneuves episch angelegte Familiengeschichte um Trauer und Wut, Glück und Liebe schmerzt wie eine schallende Ohrfeige. Schreckliche Details der traurigen Geschichte bleiben dem Publikum nicht erspart (explizit ausgestellte Gräueltaten werden hingegen vermieden). Dieses Antikriegsdrama macht fassungslos, bestürzt. Und trotzdem ist Die Frau, die singt – Incendies bei aller Bitterkeit so wunderschön, klug und unwiderstehlich, dass Sie ein Glück und eine tiefe Dankbarkeit für die 133 Minuten Filmkunst verspüren werden. Der Film zelebriert in intensiven Bildern die Gabe der Versöhnung und verneigt sich vor dem Überlebenswillen und der Stärke seiner Protagonistin. Und so gehört Villeneuves Tragödie zu den wenigen Filmen, die mich sprachlos hinterlassen. Normalerweise genieße ich es, lange Texte und ausführliche Rezensionen zu den Filmempfehlungen auf www.film-berater.de zu verfassen. Bei dieser Produktion habe ich hingegen Sorge, dass keine Beschreibung wiedergeben kann, wie virtuos Villeneuve uns mit Bildern von magischer Intensität in den Bann zieht und – sehr lange nach Verlassen des Kinos oder Ausschalten des Fernsehers – nicht mehr loslässt. So fällt diese Filmvorstellung ungewohnt kurz aus.

Fazit: Die Frau, die singt – Incendies ist kein Film, sondern eine Erfahrung. Lassen Sie sich dieses beklemmende Meisterwerk nicht entgehen.

Originaltitel: Incendies
Produktionsland: Kanada
Erscheinungsjahr: 2010
Regie: Denis Villeneuve
Drehbuch: Denis Villeneuve, Valérie Beaugrand-Champagne
Darsteller: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Remy Girard
Kamera: André Turpin
Musik: Grégoire Hetzel
FSK: 12

Für wen ist dies der ideale Film?

  • Die Frau, die singt – Incendies ist nahezu uneingeschränkt empfehlenswert. Sollten Sie sehr empfindlich auf Filme von großer emotionaler Härte reagieren, so ist jedoch Vorsicht geboten.
  • Bei Die Frau, die singt – Incendies sollte die FSK-12-Freigabe aus gleichen Gründen nicht unterschritten werden.

Welches Setting passt zu diesem Film?

  • Die Frau, die singt – Incendies sollte bevorzugt alleine, zu zweit oder in kleiner Gruppe geschaut werden. Aufgrund der Thematik sowie einiger bedrückenden Szenen handelt es sich hierbei nicht um einen geeigneten Film für einen kurzweiligen Filmabend.

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