Der Videoabend. Ein Nachruf.

© TiJo (www.film-berater.de), 2020

Ein sonniger Freitagnachmittag Ende der 1990er, endlich Wochenende. Nach der Schule gibt es ein gehetztes Mittagessen, bloß keine Zeit verlieren. Die Tasche ist seit dem Vortag gepackt. Ich fühle mich gut, bin ausreichend erholt. Bis Samstagmittag werde ich mit meinem Freund Christian – wie schon so oft in diesem Jahr – fünf Filme schauen. Fünf! Ich werde bei Christian übernachten, wobei eine solch große Aufgabe ohnehin kaum Schlaf zulässt. Das Zeremoniell läuft nach immer gleichem Schema ab: Ich fahre mit dem Fahrrad zu Christians Reihenhaussiedlung im Bremer Westen. Gemeinsam geht es zur Videothek unseres Vertrauens. Es ist die einzige Videothek im Stadtteil. In der Videothek riecht es nach Zigaretten, der Ort ist uns ein bisschen suspekt. Auch wegen der vielen Typen mit getönten Brillengläsern, die dort ein- und ausgehen. Sie alle öffnen früher oder später die weiße Tür mit dem roten Stoppschild, welche unsere Videothek von ihrer nicht jugendfreien Erlebniswelt trennt. Sie müssen sich in ihrer Parallelwelt zwischen Gina Wild, Dolly Buster und Kelly Trump entscheiden, während wir von „Sly“ Stallone, Arnold Schwarzenegger und Steven Seagal schwärmen. Leider achtet Torsten, der dicke, graublasse Videotheksbesitzer, dem ansonsten alles egal zu sein scheint, genau auf die Altersfreigaben der Filme. Er käme „in Teufels Küche“, wenn er da nicht strikt wäre. Für die meisten Filme unserer Helden sind wir zu jung.

Fünf Filme von heute bis morgen auszuleihen ist ein echtes Schnäppchen, oder wie der wirklich sehr dicke Torsten es formuliert, ein „Aktionsangebot“. Christian darf als Gastgeber drei Filme aussuchen. Ich muss mich mit zwei Schlüsselanhängern zufriedengeben. VHS ist das Medium der Wahl, obwohl in Torstens Videothek immer öfter DVDs die Regale zieren. Einen DVD-Player besitzt selbst Christian nicht. Wir sind spät dran – unter vielen Videohüllen hängt kein Anhänger mehr. Gerne würde ich der Gastgeber sein, möchte einmal drei Filme auswählen, aber der uns bevorstehende Videomarathon wäre in meinem Elternhaus undenkbar. Deshalb bin ich Gast und Christian Gastgeber. Wie jedes Mal. Christian liebt Komödien, die mich nicht immer zum Lachen bringen. Und er mag Katastrophenfilme, sehr sogar. Da brennen dann ganze Städte, Vulkane explodieren oder Flugzeuge stürzen ab. Actionfilme finden wir beide toll. Viel Konfektionsware leihen wir uns in diesen Tagen in der Videothek aus. Uns gefällt es. Meist sind es Hollywood-Produktionen. Christian kann deutsche Filme nicht ausstehen. Außer jene mit Tom Gerhardt. Heute wählen wir fünf amerikanische Produktionen. Torsten nimmt die Schlüsselanhänger an sich und sucht in aller Seelenruhe die dazugehörigen Videos aus den Regalen hinter seinem Tresen. Er spricht nicht viel, wirkt meistens grimmig. Heute kommentiert er einen von uns gewählten Film, Sechs Tage, sieben Nächte mit Harrison Ford und Anne Heche, mit einem für ihn fast logorrhoischen „super Film“.

Nach der Videoauswahl geht es, wie jedes Mal, in die benachbarte Plus-Filiale. Wir verlassen den Laden mit einer Flasche Cola und einer Fanta im Gepäck. Auch eine Tüte POM-BÄR-Chips, zwei BiFi und zwei Tiefkühlpizzen befinden sich nach dem Einkauf in Christians Bundeswehrrucksack. Der nächste Stopp ist der kleine Kiosk an der Ecke. Dort sind wir seit jüngsten Kinderjahren Stammkunden. Wir holen uns jeweils eine gemischte Tüte für 2 DM. Frau Burkhard, die alte Dame, die den Kiosk seit dem Tod ihres kettenrauchenden Mannes allein führt, füllt geduldig Colakracher, salzige Heringe, Brausetabletten und saure Gurken in unsere Tüten, bis das Geld aufgebraucht ist. Einen Chupa Chups bekommen wir von ihr geschenkt. Alles wie immer. Obwohl wir ansonsten darauf bedacht sind, erwachsen zu wirken, der Besuch bei Frau Burkhard gehört dazu.

Daheim bei Christian überkommt uns der Hunger, unsere Einkäufe wollen wir aber noch aufsparen – es wird eine lange Nacht. Christian lebt allein mit seiner Mutter, sein älterer Bruder Patrick lebt in Hamburg. Nach der Scheidung seiner Eltern hatte er nur auf den Tag der Volljährigkeit gewartet und war dann ausgezogen. Das ist ärgerlich, denn Patrick ist ein guter Typ, obwohl er Techno hört. Wäre er in Bremen, könnte er uns „echte“ Actionfilme ausleihen. Einige Videokassetten hat er Christian beim Auszug vermacht. Stirb Langsam war dabei. Yippie-ya-yeah, Schweinebacke! Christians Mama ist selten zuhause. Der Kühlschrank ist trotzdem immer gut gefüllt. Wir löffeln jeder einen Frufoo. In der Schule wäre das peinlich. Aber unbeobachtet schmeckt der Kinder-Fruchtquark super. Wir quatschen über die Neue in der 8a und die anstehende Klassenfahrt. Dann wird es ernst. Um sechs Uhr starten wir den ersten Film. Die Festlegung der optimalen Reihenfolge der Filme ist dieses Mal komplex. Neben Sechs Tage, sieben Nächte, einer Abenteuer-Romanze, haben wir uns mit Verrückt nach Mary für eine Komödie, mit Rush Hour für eine Actionkomödie und mit Deep Impact und Armageddon für zwei thematisch verwandte Katastrophenfilme entschieden. Bei zwei so ähnlichen Filmen dürfen diese nicht in direkter Abfolge geschaut werden – da sind Christian und ich uns einig. Wir beginnen mit Armageddon. Der dauert eine halbe Ewigkeit und ist unangenehm pathetisch.

Die Spulpause nach dem Film nutzen wir für Toilettengänge und um die Tiefkühlpizzen aufzubacken. Spulpausen sind wichtig, weil Torsten bei der Abgabe der Videos zusätzliche 2 DM Strafgebühr pro Kassette verlangt, wenn diese nicht zurückgespult wurden. Gegen Viertel nach neun starten wir mit Sechs Tage, sieben Nächte den zweiten Film. Dabei essen wir unsere TK-Pizza. Der Film ist angenehm unspektakulär. In der nächsten Spulpause (bei einer Bifi) sprechen wir ein paar Sätze mit Christians Mutter, die in der Zwischenzeit nach Hause gekommen ist. Sie will uns gar nicht lange stören, was sie auch so sagt, lässt uns aber wissen, dass im Gefrierschrank im Keller etwas Eiscreme auf uns wartet.

Bei einem Glas Spezi starten wir gegen zehn nach elf Rush Hour. Wir lachen über die dargebotenen Albernheiten. Ich erfreue mich am Rap-Soundtrack. Christian kann mit dieser Musik nichts anfangen, er hört Guano Apes, trägt sogar einen Aufnäher der Göttinger Band an seinem Rucksack. Nach mittlerweile drei Filmen ist die Luft im Wohnzimmer so dünn, dass es uns auffällt. Jungs in unserem Alter können so was wunderbar ausblenden, dünsten aber umso beachtlicher aus. Die Fenster werden aufgerissen, die kalte Nachtluft umhüllt uns. Nebenbei verfliegt so die erste Müdigkeit. Gegen ein Uhr starten wir bei Vanilleeis mit Smarties und bunten Schokostreuseln den vorerst letzten Film, Verrückt nach Mary. Wir haben ihn beide schon im Kino gesehen, wissen, was uns erwartet. Die Szene in der Mary ihre Freunde Pat Healy und Norman Tucker einander vorstellt, beides Hochstapler die sich aus Imponiergehabe als Architekten ausgeben, haben Christian und ich in den Wochen nach dem Kinobesuch täglich nachgesprochen. Trotzdem sind wir vom Gesehenen absorbiert, lachen laut und sind in Mary verliebt.

Danach spielen wir bis kurz vor fünf Mario Kart auf Christians Nintendo 64. Battle-Modus, was sonst. Dann fallen wir müde und ohne die Zähne zu putzen in unsere Betten. Wir schlafen bis kurz vor zehn und nehmen ein knappes Frühstück zu uns, bevor es wieder vor den Fernseher geht. Deep Impact. Der Film fordert uns, die Luft ist raus. Ich gehe müde nach Hause. Gegen vier Uhr ist die Müdigkeit so groß, dass ich bis zum Abendessen schlafe. Um sieben Uhr stochere ich lustlos im Essen – eine gesunde Suppe mit Aprikosen und Tofu. Nach dem Essen wollen meine Eltern ein Video mit mir schauen, Tee im Harem des Archimedes. Der Film ist ab 16 freigegeben, aber sie seien ja dabei. Ich bin film- und fernsehfrei aufgewachsen und freue mich in dieser Zeit über jede Gelegenheit, einen Film zu schauen. Die FSK-16-Freigabe ist ein zusätzlicher Reiz. Heute Abend lehne ich dankend ab. Ich gehe früh ins Bett, schlafe schnell ein und träume von Asteroiden, Kung-Fu und Mary.

Die Namen, Charaktere und Ereignisse, die ich oben porträtiert habe, sind frei erfunden. Eine Identifikation realer Personen sollte nicht möglich oder rein zufällig sein. Und trotzdem hatten wir in den 1990ern alle einen Christian zum Freund. Und es hat diese Videoabende gegeben. Wir haben Filme, nicht selten waren es fünf an einem Wochenende, aufgesogen, sie nachgespielt, von ihnen geträumt. Ablenkende Handys hatten wir keine. Die Filme waren mehrheitlich anspruchslos, routiniert und austauschbar inszeniert. Aber wir haben das erfahren, was man die Magie des Films nennen könnte. Das klingt so groß und verkitscht, hat uns aber eine Menge bedeutet. Wir haben unendlich viel Junkfood, Fett und Zucker in uns reingeschaufelt, hatten eine verdammt gute Zeit. Wir wurden älter, trafen uns mit Mädchen, gingen in Clubs und auf Parties. Die Interessen waren andere. Der Videoabend ist irgendwo in dieser Entwicklung auf der Strecke geblieben. Schade. Videotheken sind heute fast ausgestorben. Unser Filmgeschmack ist ein anderer – was gut ist. Wir kämpfen schon nach einem einzigen Film mit der Müdigkeit – was schade ist. Wir essen begeistert Aprikosen-Suppe mit Tofu, achten auf ausreichend Bewegung – was vernünftig ist. Vielleicht sollten wir ein wenig regressiv sein und einen Videoabend veranstalten. Mit Freunden, ungesunden Snacks und Filmen. Es müssen ja nicht gleich fünf sein…

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