The Broken Circle

© TiJo (www.film-berater.de), 2020

Einleitung

Am 27. Januar 1904 schrieb Franz Kafka die folgenden, heute berühmten, Worte an seinen Freund Oskar Pollak: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht (…)? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. (…) ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ [vgl. Franz Kafka, Briefe 1902- 1924, Fischer Verlag 1998, Seite 27 ff]. Nicht nur in der Literatur schätze ich den von Kafka erwähnten „Faustschlag auf den Schädel“ ungemein. Ich mag es, von einer Geschichte aufgewühlt und mitgenommen zu werden. Das Drama The Broken Circle aus dem Jahr 2012 „beißt und sticht“, wie kaum eine andere Produktion. Die Tragödie, die in The Broken Circle erzählt wird, geht bis an die Grenzen des Zumutbaren. Selten sieht man einen Film, der so bewegt, anrührt und zerstört wie The Broken Circle, selten aber auch ein Werk, welches die Liebe so schön und klug zum Mittelpunkt seiner Handlung macht und seinen Figuren und dem Publikum so viel Respekt zollt.

Kritik

Eine schreckliche Geschichte, wie sie das Leben schreibt

The Broken Circle ist der vierte Spielfilm des belgischen Regietalents Felix Van Groeningen, der mit Die Beschissenheit der Dinge erstmalig internationale Berühmtheit erlangte. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der freiheitsliebende Bluegrass-Sänger Didier (Johan Heldenbergh) verliebt sich in die Tätowiererin Elise (Veerle Baetens). Die Liebe trifft die beiden mit voller Wucht, sodass Elise nach kürzester Zeit zu Didier zieht, der in einem Wohnwagen, neben einem renovierungsbedürftigen Haus lebt. Elise wird schwanger. Die kleine Familie renoviert das Haus, um den Wohnwagen zu verlassen. Die kleine Maybelle (Nell Cattrysse) gerät schnell zum Mittelpunkt im Leben von Elise und Didier. Elise beginnt, in Didiers Band zu singen. Kurzum: Das Familienglück der gesellschaftlichen Aussteiger scheint perfekt. Dann erhält Maybelle die Diagnose einer unheilbaren Leukämie und das Glück wird rissig. Für die Familie beginnt ein anstrengender Kampf gegen die Krankheit. So leidenschaftlich wie die Liebe zwischen Didier und Elise einst begann, prallen jetzt Unverständnis für das Gegenüber und pure Verzweiflung aufeinander. Der Zuschauer erlebt im Folgende eine emotionale Berg- und Talfahrt, die einer griechischen Tragödie gleicht.

Simple Story, komplexe Erzählweise

Während die Handlung nicht sonderlich originell erscheint, ist es die filmische Umsetzung umso mehr. So wird das Geschehen nicht chronologisch dargestellt, was, dank der exzellenten Schnitttechnik, zu effektvollen Übergängen und, teils schwer erträglichen, szenischen Kontrasten führt. Machen Sie sich darauf gefasst, das Freude und Leid in The Broken Circle nah beieinander liegen. Die Vermischung der Zeitebenen lässt den Film wie eine Erinnerung wirken, denn diese setzt sich meist aus voneinander getrennten Fragmenten zusammen und verläuft selten linear. Eine weitere Besonderheit von The Broken Circle liegt in den live dargebrachten Bluegrass-Songs. Es wäre ein leichtes gewesen, an einer so dramatischen, niederschmetternden Geschichte wie jener, die The Broken Circle erzählt, zu scheitern. Felix Van Groeningen gelingt es aber wiederholt, den Zuschauer aus tiefster Trauer herauszuholen. Die Bluegrassmusik hat wesentlichen Anteil an dieser Leistung. Sie ist der Hoffnungsschimmer, den Didier und Elise – genau wie die Zuschauer – brauchen, um nicht am Erfahrenen zu zerbrechen. Sie steht im Zentrum der Geschichte, verwebt die Erzählstränge ihrer Akteure. Gleichzeitig stellt die mitreißende Musik eine Möglichkeit für Felix Van Groeningen dar, das Innenleben von Didier und Elise nach außen zu kehren, spürbar zu machen – das nicht Aussprechbare doch zu vermitteln.

Warum The Broken Circle ohne Bluegrass unerträglich wäre

Ich hatte keinerlei Zugang zu Bluegrass, bevor ich The Broken Circle sah. Ich hätte die Musik vermutlich als Country abgetan – eine Stilrichtung, die eine gewisse Abwehr in mir hervorruft. Zu gefestigt sind die Klischees von dicken weißen Amis in Cowboystiefeln, die (zu ewig gleichem Banjo-Geschrammel) eine bedauernswerte Figur beim Line Dance abgeben. Tatsächlich hat Bluegrass seine Wurzeln in Kentucky und Tennessee und ja, das Banjo wird beim Bluegrass mitunter gezupft. Die im Film vorkommende Bluegrass-Musik (neu von Bjorn Eriksson arrangiert) ist allerdings nicht eine Sekunde nervtötend, im Gegenteil. Die The Broken Circle Breakdown Bluegrass Band, welche nach der Erstveröffentlichung des Films in Deutschland auf Tournee ging, spielt die Songs mit so viel Seele und Herzblut ein, dass man sich ihrer Wirkung kaum entziehen kann. Hätte es Bluegrass-Musik nicht schon gegeben, für The Broken Circle hätte man sie erfinden müssen. Der Trost, der von dieser mal melancholischen, dann aber wieder zuversichtlichen Musik ausgeht, mildert den Film in seiner emotionalen Grausamkeit ab, macht ihn überhaupt erst erträglich.

Starkes Schauspiel, mit Preisen honoriert

Unbedingt gelobt werden sollte die schauspielerische Leistung der beiden, hierzulande weitestgehend unbekannten, Hauptdarsteller. Es ist angenehm, „unverbrauchte“ Gesichter im Film zu entdecken; Schauspieler die man nicht bereits in unzähligen – teilweise konträr angelegten – Rollen beobachten musste. Wenn diese ihren Job dann derartig ausdrucksstark erledigen, wird das Zusehen ein echtes Vergnügen. Wie die beiden Schauspieler Didier und Elise in The Broken Circle an sich selbst und aneinander verzweifeln lassen, das ist große Kunst. Kunst, die mit dem Panorama-Publikumspreis der Berlinale 2013 honoriert wurde. Im selben Jahr wurde Veerle Baetens für ihre Verkörperung der Elise der Europäische Filmpreis als beste Darstellerin verliehen. The Broken Circle ist übrigens die Leinwandadaption eines gleichnamigen Theaterstücks aus der Feder von Johan Heldenbergh, welcher im Film, genau wie zuvor im Theater, Didier verkörpert.

The Broken Circle kommt ohne unnötige Rührseligkeit aus

Ein Film über ein großes Unglück, das Zerbrechen eines Familienkreises, läuft stets Gefahr, zu rührselig, kitschig oder klischeebeladen zu wirken. Felix Van Groeningens Meisterwerk zeichnet sich zwar dadurch aus, dass er Mitgefühl in uns erzeugt und uns mit emotionaler Wucht packt, driftet dabei aber nie ins Seichte ab. The Broken Circle erzählt von einer leidenschaftlichen Liebe, Verantwortung und den Höhen und Tiefen des Lebens. Didier und Elise hoffen und verzweifeln, jeder auf seine Art. Didier ist ein überzeugter Atheist, Elise sehnt sich nach dem, was jenseits des menschlich Erfahrbaren liegt. Beide suchen nach dem Sinn unserer Existenz und dem Sinn des Sterbens. Der Film zeigt eindrucksvoll, wie schwer Trauer- und Traumabewältigung ist, dass man ihr zerbrechen kann. Auch wir Zuschauer spüren in The Broken Circle etwas von der Wucht einer traumatischen Erfahrung, denn Felix Van Groeningen lässt uns das ganze Spektrum der Emotionen, von vom Himmel hoch jauchzend bis zu Tode betrübt, spüren. Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass der Film uns am Ende in keinem desolaten emotionalen Zustand zurücklässt. Nach 110 Minuten Laufzeit haben wir Zuschauer zwar einen dicken Kloß im Hals, aber gleichzeitig sind wir dankbar, dass wir da gerade einen Ausschnitt echten ungeschminkten Lebens sehen durften. Und, was noch viel wichtiger ist, wir ahnen, dass das Leben trotz schrecklicher Verlusterfahrungen weitergehen kann und weitergehen wird.

Gibt es gar nichts zu kritisieren an The Broken Circle? Den kurzen Ausflug in die amerikanische Politik sowie die zugehörige Religionskritik habe ich als etwas halbgar erlebt. Didier, naturverbunden und Typ einsamer Cowboy, scheint zunächst von Amerika fasziniert, was sich nicht zuletzt in der Bluegrass-Musik seiner Band spiegelt. Sein Glauben an das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ scheint durch die Terroranschläge des 11. September sowie die ablehnende Haltung George W. Bushs zur Stammzellforschung erschüttert. Die Einblendungen realer Aufnahmen des amerikanischen Präsidenten wirken etwas unnatürlich und unterbrechen den sonst so flüssigen Erzählfluss. Als Auslöser einer wirklichen Reflexion über die komplexe Ethik der Stammzellforschung reicht dieser Einschub nicht. Diese Kleinigkeit trübt das sonst so packende Filmerlebnis aber kaum. Danke für einen wunderbaren Film, Felix Van Groeningen!

Fazit: Ein Film, der unfassbar weh tut und trotzdem glücklich macht. Es ist das Glück, ein kleines Meisterwerk entdeckt zu haben.

Originaltitel: Broken Circle Breakdown
Produktionsland: Belgien, Niederlande
Erscheinungsjahr: 2012
Regie: Felix Van Groeningen
Drehbuch: Carl Joos, Felix Van Groeningen
Darsteller: Veerle Baetens, Johan Heldenbergh
Kamera: Ruben Impens
Musik: Bjorn Eriksson
FSK: 12

Für wen ist dies der ideale Film?

  • Sie werden The Broken Circle lieben, wenn Sie offen für wunderschöne Bluegrass-Musik sind. Sie kennen keine Bluegrass-Musik und verabscheuen Country? Glauben Sie mir, ich hätte vorher nicht gedacht, wie mir dieser Soundtrack ans Herz wachsen würde. Bleiben Sie offen für neue Eindrücke, Sie werden es nicht bereuen.
  • Ich kenne keinen Film, mit dem sich The Broken Circle vergleichen lässt. Rein formal ist es ein sehr bewegender Film mit fantastischer Musik. Ein Vergleich mit A Star Is Born ist daher nicht abwegig, wenngleich The Broken Circle eine größere emotionale Wucht besitzt.
  • Sie werden The Broken Circle mögen, wenn Sie es satthaben, immer den gleichen Schauspielern in den verschiedensten Rollen zuzusehen. Tom Hanks verkörperte zwischen 2000 und 2005 u.a. einen Südsee- und einen Flughafengestrandeten, einen Gangster und einen FBI-Ermittler. Freuen Sie sich auf neue Gesichter und unbekannte Talente.
  • Ihnen dürfte der Film gefallen, wenn Sie Kafkas Worten zu Beginn dieses Artikels etwas abgewinnen konnten.

Welches Setting passt zu diesem Film?

  • Als ich The Broken Circle erstmalig im Kino sah, blieben die Besucher bis zum Schlussakkord des letzten Songs sitzen, ließen den gesamten Abspann an sich vorbeiziehen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Selbst als das Saallicht anging, waren alle weiter gefangen von diesem Film. Vereinzelt wurden Tränen weggewischt, bevor man schweigend den Kinosaal verließ. The Broken Circle ist daher nicht die perfekte Auswahl für einen lockeren Filmabend in größerer Runde. Ebenso wenig sollten Sie ihn allein schauen – wer tröstet Sie dann? Ich halte den Film als gute geeignet für einen Abend zu zweit.
  • Ein Wort der Warnung: Eltern kleiner Kinder oder Menschen, die selbst um eine geliebte Person trauern, könnte The Broken Circle sehr nah gehen.
  • Der Film ist unbedingt empfehlenswert, wenn man bereit ist, sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt einzulassen und gerne über existenzielle Fragen nachdenkt.

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