Dogville

© TiJo (www.film-berater.de), 2020

Einleitung

Kaum ein anderer europäischer Filmemacher polarisiert wie Lars von Trier. Einerseits wird der Däne wiederholt für nicht weniger als die Erneuerung des Kinos gefeiert. Andererseits lässt er, so scheint es, keine Provokation oder Geschmacklosigkeit aus. Das von ihm maßgeblich mitentwickelte Dogma 95-Manifest, gegen die zunehmende Wirklichkeitsentfremdung des Kinos, hat Regisseure auf der ganzen Welt geprägt und beeinflusst. Doch von Triers wirre Aussagen über angebliche NS-Sympathien auf einer Pressekonferenz in Cannes 2011 dürften ihm noch lange nachhängen. Auch die kritische Berichterstattung zu Nymphomaniac (Hat er die Grenze zur Pornografie überschritten?) oder The House That Jack Built (Was will er uns mit dieser Gewaltorgie sagen?) wird vielen Lesern erinnerlich bleiben.

Dabei wird das Enfant terrible des Autorenkinos nicht müde zu betonen, dass jeder Ausbruch aus den Kinokonventionen einem übergeordneten Ziel dient – der immer stärkeren Fokussierung auf seine Protagonisten, deren innerer Entwicklung und damit letztlich auf sich selbst. Denn von Trier geht es, so möchte man gerne glauben, in all seinen Filmen um die Exploration der eigenen düsteren Seelenlandschaften. Lars von Trier als Skandalregisseur abzutun, würde seiner Person (und seinem unbestrittenen Genie) nicht gerecht werden. Der Exzentriker versteht es wie kaum ein anderer Filmemacher, minimalistische Bilder zu erschaffen, diese mit einer wackeligen Handkamera einzufangen und das Publikum dennoch zu fesseln. In von Triers außergewöhnlichem Œuvre nimmt Dogville aus dem Jahr 2003 eine Sonderstellung ein, weil die Inszenierung kaum verhaltener sein könnte. Die Aussicht auf eine fast dreistündige Theateraufführung vor spärlicher Kulisse dürfte so manchen Zuschauer abschrecken. Auch auf mich wirkte das Vorhaben zunächst wie ein befremdliches Filmexperiment. Doch vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen verspreche, dass Dogville kein trockenes Experiment, sondern ein unvergessliches Filmerlebnis bietet, welches die Grenzen der Filmkunst durchbricht und die Frage nach der Essenz cinematographischen Erzählens neu stellt. 2016 hat die BBC fast 200 Filmkritiker aus 36 Ländern befragt, um einen Kanon der 100 bedeutendsten Filmen des 21. Jahrhunderts zu erschaffen. Völlig zurecht findet sich Dogville auf dieser Liste.

Kritik

Der Besuch der jungen Dame

In Dogville, einem abgelegenen Bergdorf in den Rocky Mountains, taucht eines Tages im Jahr 1930 eine verängstigte Fremde (Nicole Kidman) auf. Ihr Name lautet Grace Margaret Mulligan und sie ist auf der Flucht vor skrupellosen Gangstern. Der Möchtegern-Schriftsteller Thomas Edison jr. (Paul Bettany), genannt Tom, versteckt die schöne, geheimnisvolle Frau vor ihren Verfolgern und überzeugt die anderen Einwohner Dogvilles, sie in die rechtschaffene Gemeinschaft aufzunehmen. Die Dorfbewohner gewähren ihr zunächst eine Frist von zwei Wochen. Nach anfänglichen Vorbehalten gewinnt Grace durch verschiedenste Hilfsarbeiten und gute Taten das Wohlwollen der Gemeinde. Doch dann taucht die Polizei mit einem Fahndungsplakat von Grace in Dogville auf. Obwohl die Fahndung auf falsche Anschuldigungen ihrer Verfolger beruht, entsteht bei den Bewohnern Dogvilles zunehmendes Misstrauen gegenüber Grace. Die Stimmung kippt, und Lars von Triers zynische Geschichte nimmt ihren Lauf…

Lars von Trier setzt mit Dogville auf die Vorstellungskraft seiner Zuschauer. Der Film, der auf der Handlungsebene an Dürrenmatts Besuch der alten Dame denken lässt, erinnert in seiner konsequenten Reduktion an das Epische Theater von Bertolt Brecht. Die Handlung von Dogville wird in neun Kapiteln erzählt, gerahmt von einem Pro- und einem Epilog. Eine minimalistische Theaterbühne in einer Lagerhalle bei Göteborg, 50 × 50 Meter groß, dient als alleinige Kulisse des Films. Auf die Bühnenbretter wurden mit weißer Kreide wenige Straßennamen geschrieben. Stachelbeerbüsche, eine Mine am Rand des Dorfs und die Grundrisse der Häuser Dogvilles sind ebenfalls aufgezeichnet. Türen fehlen, knarzen aber, wenn die Schauspieler diese pantomimisch öffnen. Ein Schaufenster markiert den Dorfladen, ein Holzgerüst mit einer Glocke den Kirchturm. Ein Schaukelstuhl, ein Sofa oder ein Arzneischrank – nur wenige Möbel schmücken die Leere aus. Dazu ein paar Requisiten – Besen und zwei Autos. Theatralische Beleuchtungstricks, Geräusche von Band. Die Tageszeiten werden durch einen weißen oder schwarzen Hintergrund kenntlich gemacht. Ein positiver Nebeneffekt dieser zurückgenommenen Inszenierweise: Nichts lenkt den Zuschauer von den Figuren der tragischen Geschichte, den psychologischen Nuancen dieser fein ausgearbeiteten Charaktere ab. Und die Empfindungen seiner Protagonisten sowie deren Beziehungen zueinander sind von Trier so wichtig, dass er sie oft aus der Halbnahaufnahme einfängt. Entsprechend ausdrucksstark muss das Schauspielensemble agieren.

Allstar-Ensemble und ein Magier auf dem Regiestuhl

Lars von Trier, der sich für Dogville als Regisseur, Autor und camera operator verantwortlich zeigte, schrieb Nicole Kidman die Rolle der Grace Margret Mulligan auf den Leib. Entsprechend kann Kidmans darstellerische Leistung gar nicht hoch genug gelobt werden. Die männliche Hauptrolle des „Tom“ Edison wurde vom souveränen Engländer Paul Bettany übernommen. Viele internationale Filmstars vervollständigen die phänomenal aufspielende 15-köpfige Darstellerriege. So darf man sich u.a. auf Lauren Bacall, James Caan, Ben Gazzara, Chloe Sevigny und Stellan Skarsgård freuen. Damit die karge Inszenierung nicht zu abstrakt wirkt, stellt von Trier den Schauspielern einen allwissenden Erzähler zur Seite (in der deutschen Übersetzung leiht ihm Peter Fricke seine Stimme, in der Originalfassung wird der Sprechpart von John Hurt übernommen). Er erklärt den Zuschauern die Geschehnisse und offenbart manche, für das Zuschauerauge unsichtbare, Details.

Es wird diesem epischen Werk weder gerecht, es auf ein Kino-Experiment zu reduzieren, noch sollte Dogville als filmisch eingefangenes Theaterstück abgetan werden. Denn trotz formaler Reduktion von Technik und Ausstattung gibt es unendlich viel zu sehen und zu entdecken. Lars von Trier erzählt eine erschütternde Geschichte von Menschlichkeit und Entmenschlichung, von Rache und Vergebung, von Schein und Sein. Und er tut dies derart virtuos, dass es nur eine kurze Gewöhnungszeit braucht, bei mir waren es keine 30 Minuten, bis man staunt, leidet, mitfühlt, sich wundert. Und spätestens wenn Grace nach etwa einer Stunde Laufzeit ein nicht vorhandenes Fenster öffnet, ihr Gesicht plötzlich in den warmen Farben des Sonnenuntergangs leuchtet, ist es um den Zuschauer endgültig geschehen. Der Zauberer von Trier hat mit Dogville die perfekte Illusion geschaffen, ein Kino, welches in den Köpfen des staunenden Publikums entsteht. Die 177 Minuten Laufzeit vergehen wie im Flug.

Dogville als anti-amerikanisches Lehrstück?

Von Teilen der amerikanischen Presse musste sich der von Flugangst geplagte Lars von Trier (nicht zum ersten Mal in seiner Karriere) den Vorwurf gefallen lassen, einen kritischen Film über die amerikanische Gesellschaft gedreht zu haben, ohne jemals selbst im Land gewesen zu sein. Resümiert von Trier im Film gar, dass die Erde ohne die Gemeinschaft von Dogville, diesem filmischen Stellvertreter der USA, ein besserer Ort werden würde? Man könnte diesen Vorwurf ohne große Mühe entkräften: Die minimalistische Inszenierung lässt das Gesehene universell erscheinen. Die sinnbildliche Handlung ist in abweichende Zeitepochen und auf andere Orte übertragbar. Dogville ist überall dort zu finden, wo es Flüchtlinge, Asylsuchende und besorgte Bürger gibt (und damit ist der Film auch 2020 hochaktuell). Das Meisterwerk prangert die allgegenwärtige Ausbeutung einer Schutzsuchenden an, mahnt vor einer inhumanen Gesellschaft, in der jeder nur seine eigenen Interessen wahrt. Doch so einfach ist es dann doch nicht, mit der Abwendung des Vorwurfs der Amerikakritik. Denn nach dem furiosen Finale ertönt im Abspann ausgerechnet David Bowies Young Americans und von Trier zeigt seinem Publikum eine Collage von Menschen im sozialen Abseits der USA, angefangen bei Bildern aus der Zeit der Great Depression bis hin zu Fotos aus den Ghettos der Gegenwart. Ein letzter Gruß des Berufsprovokateurs an seine amerikanischen Kritiker. Dogville will unübersehbar mehr sein, als bloß eine Amerikakritik – aber bitte auch nicht weniger.

Fazit: Lars von Trier hat seinerzeit mit Dogville die Grenzen des Films neu ausgelotet. Mit bescheidensten Mitteln schafft er großes Kino. Der dänische Provokateur führt uns dabei einmal mehr vor, zu welchen Gräueltaten Menschen im Stande sind und beweist dabei fast beiläufig, dass in seinem Kino alles möglich ist. Das Schuld- und Sühnedrama ist spannend wie ein Thriller und erschüttert bis ins Mark.

Originaltitel: Dogville
Produktionsland: Dänemark, Schweden, Frankreich, Norwegen, Niederlande, Finnland
Erscheinungsjahr: 2003
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Darsteller: Nicole Kidman, Paul Bettany, Lauren Bacall, James Caan, Ben Gazzara, Chloe Sevigny und Stellan Skarsgård
Kamera: Anthony Dod Mantle
Musik: Antonio Vivaldi, Giovanni Battista Pergolesi
FSK: 12

Für wen ist dies der ideale Film?

  • Die FSK 12-Freigabe von Dogville sollte unbedingt eingehalten werden – der Film ist streckenweise sehr erschütternd und könnte jüngere Zuschauer irritieren.
  • Es handelt sich bei Dogville um einen perfekten Film für den anspruchsvollen Kinofreund, der keine Angst vor 177 Minuten Laufzeit hat.
  • Sie werden Dogville mögen, sollten Sie auch Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame oder Brechts episches Theater schätzen.
  • Wenn Sie gerne über die großen Themen unserer Zeit – Asyl und Vertreibung, Schuld und Sühne, Vergebung und Rache, Moral und Menschlichkeit – philosophieren, dann ist Dogville eine gute Wahl.

Welches Setting passt zu diesem Film?

  • Der Film vergeht wie im Flug und ist – trotz seiner schlichten Inszenierung – nicht langweilig. Trotzdem schadet es, bei fast drei Stunden Laufzeit, nicht, den Film wach und aufmerksam zu verfolgen.
  • Die Handlung von Dogville wirft viele Fragen auf. Der Film eignet sich daher gut für die Vorführung in kleineren Film- und Diskussionsgruppen.

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